- maghrebinische Literatur.
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Die Literatur der drei Kernländer des Maghreb (Algerien, Marokko, Tunesien) ist bis in die Wahl der Sprache hinein - Berberisch, Arabisch oder Französisch - Reflex der bewegten Geschichte dieser Region. Bis in die Gegenwart erhalten hat sich die ausschließlich mündlich überlieferte Literatur der berberischen Urbevölkerung: Märchen, Lieder und Sprüche, Rätsel und Anekdoten, die fantastische Züge mit allgemeiner Lebensweisheit verbinden und erst seit kurzem von Ethnologen, Linguisten und Schriftstellern aufgezeichnet werden. Gleiches gilt für die in der arabischen Umgangssprache überlieferten literarischen Kleinformen: Aus der Fülle des anonym Tradierten heraus ragen die »Isefra« des kabylischen Wanderdichters Si Mohand (* etwa 1845, ✝ 1906) oder die populären Vierzeiler des marokkanischen Mystikers Mejdub (16. Jahrhundert) von nicht immer zweifelsfreiem Ursprung. Da die Stagnation der im Sakralen erstarrten arabischen Hochsprache, die keine dem europäischen Roman vergleichbare literarische Tradition der großen Form kennt, durch den Analphabetismus und 130 Jahre französisches Kolonialregime (1830-1962) noch verstärkt wurde, vollzog sich der zeitgenössische literarische Aufbruch des Maghreb im Medium der französischen Sprache. So entstand - nach vereinzelten frühen Stimmen (Jean Amrouche, * 1906, ✝ 1962) - in den 1950er-Jahren, als Echo und Korrektiv eines lange Zeit vom Kolonialroman rassistischer Prägung (Louis Bertrand, * 1866, ✝ 1941) usurpierten Diskurses und zum Teil initiiert von den in der »École d'Alger« um A. Camus und G. Audisio versammelten Autoren, in allen drei Maghrebländern gleichzeitig eine äußerst vitale frankophone Literatur als Korrelat der erwachenden politischen Bewusstseinsbildung in der Endphase des Kolonialismus. Sie durchläuft in wenigen Jahrzehnten idealtypisch alle wichtigen stilistischen Spielarten vom traditionellen Erzählduktus bis zur Avantgarde: Die ethnographisch-dokumentarisch geprägten Werke der Frühzeit von M. Feraoun, M. Mammeri, M. Dib und A. Sefrioui stehen neben jenen, die das Trauma der Identitätslosigkeit im kolonialen Kontext thematisieren (A. Memmi, D. Chraïbi) und, besonders in Algerien, zunehmend an politische Brisanz und Poetizität des Ausdrucks gewinnen (Kateb Yacine; Jean Sénac, * 1926, ✝ 1973; Malek Haddad, * 1927, ✝ 1978). Auf diese »Generation von 1952«, die in meist klassischem Französisch die narrativen Modelle des 19. Jahrhunderts nachahmt, folgen in den 60er-Jahren Autoren, deren aggressiver, durch lexikalische und syntaktische Kühnheiten schockierender Stil (M. Khaïr-Eddine; Rachid Boudjedra, * 1941) ihrer Kritik an den Widersprüchen und Atavismen der postkolonialen maghrebinischen Gesellschaft (wie Patriarchismus und Misogynie, Arbeitslosigkeit und Probleme der Gastarbeiter im französischen Exil) besondere Schärfe verleiht und zugleich die Schablonen der traditionellen französischen Kultur und Literatur aufbricht. Diese mitunter verkrampften Abgrenzungsversuche werden in den 70er-Jahren - dank der progressiven marokkanischen Literaturzeitschrift »Souffles« (1966-72, begründet von Abdellatif Laabi, * 1942) - zunehmend zugunsten formal-ästhetischer Experimente überwunden: Im zwanglosen Rekurs auf die europäische Moderne wie auf älteste arabisch-islamische und berberische Traditionen entsteht eine Literatur von unverwechselbarem Gepräge, die wesentlich durch synkretistische Tendenzen, Gattungsverschmelzung, Intertextualität und Fragmentcharakter geprägt ist (A. Khatibi; Malek Alloula, * 1938; Nabile Farès, * 1940; H. Tengour; A. Meddeb; Majid el-Houssi, * 1941). Neben der literarischen Auseinandersetzung mit der Sprache dominieren in der frankomaghrebinischen Literatur der 80er-Jahre die virulent-satirische Gegenwartskritik (R. Mimouni; Abdelhak Serhane, * 1950; F. Mellah) und die oft mythisch fabulierende Vergangenheitsbewältigung mit aktuellem Bezug (T. Ben Jelloun, Chraïbi, Memmi, Mellah, Tengour, Assia Djebar, T. Djaout). Daneben kommen zunehmend Schriftstellerinnen zu Wort, die Grenzen und Möglichkeiten weiblicher Emanzipation ausloten (Assia Djebar; Hadjira Mouhoub, * 1945; Hawa Djabali, * 1949). In Frankreich selbst entsteht mit Leïla Sebbar (* 1941), M. Charef, Farida Belghoul (* 1958) u. a. die Literatur der »Beurs«, die das Leben der maghrebinischen Einwanderer der zweiten Generation schildert. Die maghrebinische Literatur französischer Sprache ist mit Autoren wie T. Ben Jelloun zum festen Bestandteil der frankophonen Literatur geworden. Demgegenüber bewegt sich die arabische Literatur des Maghreb noch vielfach im Rahmen einer traditionell eher didaktisch-diskursiven Prosa und eines überkommenen Kanons erstarrter poetischer Formen: In formalen Neuerungen mit Ausnahmen - v. a. in Tunesien (Ezzedine Al-Madani, * 1938) - eher zurückhaltend, umkreist sie dennoch weitgehend dieselben Probleme wie ihr frankophones Pendant: die Akkulturationsproblematik (Ali al-Douagi, * 1909), den gesellschaftlichen Wandel im Gefolge der Unabhängigkeit - soziale Spannungen und Stadt-Land-Kontraste (Abdel Kader Ben Cheikh, * 1929) - sowie Probleme des Befreiungskrieges und der Agrarrevolution (Tahar Ouettar, * 1936; Abdelhamid Benhedouga, * 1925).J. Déjeux: Dictionnaire des auteurs maghrébins de langue française (ebd. 1984);A. al-R. ibn A. Maǧdūb: La tradition orale du Mejdoub, bearb. v. A.-L. de Prémare (Aix-en-Provence 1986);Hânin. Prosa aus dem Maghreb, hg. v. R. Keil (1989);Europas islam. Nachbarn. Studien zur Lit. u. Gesch. des Maghreb, hg. v. E. Ruhe, 2 Bde. (1993-95);J. Déjeux: Maghreb littératures de langue française. Histoire, sociologie et bibliographie (Paris 1993);J. Déjeux: La littérature féminine de langue française au Maghreb (ebd. 1994);Zw. Fundamentalismus u. Moderne. Lit. aus dem Maghreb, hg. v. H. Fock u. a. (1994);J. Noiray: Littératures francophones, Bd. 1: Le Maghreb (Paris 1996).
Universal-Lexikon. 2012.